Für diesen „Edgar-Wallace-Film“ bedienen sich Produzent Horst Wendlandt und Regisseur Alfred Vohrer hemmungslos bei Agatha Christie’s dramaturgischem Konzept von „Ten little indians“. Aber es sei ihnen verziehen, denn sie bieten dafür einen Krimikracher voll mit parodistischem Humor, skurrilen Ideen und hinreißenden Kabinettstückchen gut aufgelegter Charakterdarsteller. Ein Kultfilm, der kurzweiliger unterhält, als so manche Agatha-Christie-Adaption.
Lord Lebanon ist erdrosselt worden. Die zumeist unsympathische Verwandtschaft versammelt sich zur Testamentseröffnung auf dessen Schloss im Norden Schottlands. Es kommt, wie die Damen und Herren es nicht anders verdient haben: ein schweres Unwetter schneidet das Schloss vom Festland ab und irgendjemand benutzt ab jetzt Tücher aus Indien, um die potentiellen Erben damit zu dezimieren.
Das indische Tuch - frei nach Agatha Christie
Die geringen Hemmungen von Alfred Vohrer und Horst Wendlandt, sich bei anderen Instanzen der Kriminal- und Horrorliteratur zu bedienen, verzeiht man sofort, wenn man einmal den Edgar-Wallace-Film „Das indische Tuch“ (1963) gesehen hat. Gerade Agatha Christie’s „Ten little Niggers“ zeigt ja eine Gesellschaft mit Typen verschiedener Couleur, von denen einer nach dem anderen umgebracht wird - bis sich am Ende zwangsläufig zeigen muss, wer nun der Mörder war. Dieses ebenso einfache wie brutale dramaturgische Konzept funktioniert immer, denn das „who has done it“-Krimiprinzip ist hier in seiner absolut archaischen Form zu erleben.
Der Stoff wurde häufig verfilmt: „Das letzte Wochenende“ (1945) von René Clair , „Geheimnis im blauen Schloss“ (1965) von Georg Pollock, „Ein Unbekannter rechnet ab“ (1974 von Peter Collinson oder als deutsches Fernsehspiel „Zehn kleine Negerlein“ (1969) von Hans Quest mit Werner Peters. All diese Filme haben ihre Stärken ( immer großartige Besetzungen) und Schwächen (mehr oder weniger theaterhaft wirkende Literaturverfilmungen).
Auch „Das indische Tuch“ verfolgt dieses Story-Prinzip, nur dass es um andere Charaktere geht und Edgar Wallace einen anderen Mörder präsentiert. Die Neuauflage des Lexikon des internationalen Films kommt zu folgender Bewertung: „Serien-Gruselkrimi nach Edgar Wallace, der auch die geringsten Erwartungen enttäuscht.“ Da frage ich mich: hat der Kritiker den Film womöglich gar nicht gesehen?
Da gibt es etwas richtig zu stellen! „Das indische Tuch“ ist ohne wenn und aber der beste Film, der diese klassische Story erzählt. Keine steife Theaterhaftigkeit, statt brav verfilmte Literatur echte und vor allem kreative Filmerzählweise, keine intellektualisierten Mordmotive, sondern sanguinische Dramatik.
Alfred Vohrer zeigt hier eine Meisterleistung. Obwohl die gesamte Handlung im Schloss spielt, ist der Film das Gegenteil von Theaterverfilmung. Uns wird zur Eröffnung ein auf Leinwand gemaltes Schloss sowie offensichtlicher Kunstnebel präsentiert und schon sind wir in der betont unechten Welt eines höchst ekstatischen Films. Sogleich sehen wir sonderbarerweise ein großes ausgestopftes Pferd in einem großen Zimmer, Hans Clarin spielt leidenschaftlich klassische Klaviermusik, dann ein Spritzen aufziehender Arzt, der vor dem großen Hund Angst hat und die exaltierte Flickenschildt. Die Kamera bewegt sich und zoomt, was das Zeug hält. Wir brauchen keine angestrengten Theterdialoge um zu begreifen: Hier geht was ab! Denn jetzt sind wir mitten drin in Alfred Vohrers hysterischer Filmwelt und: schon wird das erste Opfer erdrosselt. Im weiteren Verlauf wird Vohrer mit einem Arsenal an Ideen und Gags die absurde Handlung filmisch ausschlachten, wie man es nicht besser machen kann.
Da ist einmal die klassische Klaviermusik während der Morde, die in ihrer 19.Jahrhundert-Ästhetik genauso berührend wie verstaubt wirkt, wirken soll. Aber keine Sorge: Peter Thomas modernisiert Chopin als Partybeatnummer für die Titelmusik, wodurch der morbide Eindruck der Orginalmusik einerseits betont und andererseits verraten wird. Erklingt die klassische Klaviermusik, so weiß man irgendwie auch, dass man diesen Wahnsinn auch nicht bierernst nehmen muss. Alles befindet sich stets kurz vor der Satire. Die bereits erwähnte Kamera von Karl Löb ist in typischer Vohrer-Manier immer fokussiert auf bisweilen sogar surreale Details so interessanter wie ungewöhnlicher Perspektiven. Nimmt man die Zooms und Reißschwenks hinzu, haben wir hier einen Kamerastil, der stets das Drastische betonen will. In der Hysterie liegt auch eine große Portion Sadismus, denn wir vergnügen uns genüsslich sowohl an den Gemeinheiten unter den Erben als auch an den Mordenszenen, sind die Opfer doch sowieso allesamt Unsymphaten und haben sich ihre Bestrafung redlich verdient.
Die Protagonisten bilden eine bunte Auswahl äußerst unterschiedlicher Charaktere, die natürlich krachend aneinander geraten, um uns aufs köstlichste zu unterhalten. So entstehen extreme Kabinettstückchen mit schauspielerischen Glanzleistungen. Stellvertretend dafür seien genannt: Die Szene, in der Gisela Uhlen ihren Mann beschimpft („ Geekelt hab ich mich vor dir… dein fettes Gesicht…“, Hans Nielsen im Streit mit Klaus Kinski, Richard Häußler wird von der Flickenschildt unterjocht und vor allem die pathetischen Schlussszenen mit Hans Clarin.
Der Humor ist hier hochwertiger als in manch anderen Filmen der Wallace-Serie. Neben ausnahmsweise echt britischem Humor bei Arent und Schürenberg quillt Humor aus der gesamten Inszenierung und Vohrer traut sich sogar, bis ins Surreale zu gehen. Man fragt sich zum Beispiel, ob man das wirklich richtig wahrgenommen hat, wenn der Teewagen auf Kommando des Butlers diesem eigenständig folgt als wäre der Teewagen ein dressierter Hund.
Je mehr Menschen durch das indische Tuch hingerafft werden, desto hitziger wird die Atmosphäre. Und die Auflösung ist selten so gut gelungen. Während man bei Agatha Christie erst einmal lange und umständlich erklären muss, warum der Richter lebt und warum er gemordet hat, so sieht man bei „Das indische Tuch“ nur die Augen des klavierspielenden Mörders und uns überkommt eine Gänsehaut. Gänsehaut überkommt übrigens auch Elisabeth Flickenschildt als Lady Lebanon, die sich in einer äußerst befremdlichen Situation befindet. Diese Szenen erklären alles ohne Worte, so wie es nur im Film geht. Wir sehen Bilder, die sich ins Gedächtnis einbrennen wie etwa das letzte Zusammenziehen von Flickenschildt Hand in Ganznahaufnahme.
Angesichts dieses sanguinischen Meisterwerks voller Lust am Filme machen selbst verzeihe ich Vohrer und Wendlandt sehr gern, dass sie einen fremden Stoff paraphrasiert haben. Dem blutleeren Kritiker des „Lexikon des internationalen Film“ verzeih ich weniger, sich anzumaßen, öffentlich gegen so einen singulären Film zu schreiben, von denen es gerade in Deutschland nicht viele gibt. Aber schließlich gibt es das Publikum. Und wirklich viele Menschen kennen noch viele Jahrzehnte nach der Erstaufführung die Perspektive des Tuch aufwickelnden Mörders. Und man merkt ihnen immer noch eine begeisterte Erinnerung an.
Ein Kultfilm eben.
Verfasser: Hans-Jürgen Osmers I Sämtliche Texte unterliegen dem Urheberrecht und dürfen ohne Zustimmung und Quellenangabe nicht anderweitig verwendet werden.