Im Stahlnetz des Dr. Mabuse (1961)

Chemie statt Psychologie

Dr. Mabuse ist der ureigene Horror-Mythos des deutschen Kinos schlechthin. Er entstammt einer Zeit, in der Sigmund Freuds Psychoanalysen erstmals in die unbekannte Welt des Unbewussten vordrangen. Nach zwei legendären Filmklassikern und einem wenigstens achtbaren Film des weltweit gefeierten Regisseur Fritz Lang will der geschäftstüchtige Produzent Artur Brauner den Kult nutzen, um in Serie ein Pendant zu den erfolgreichen Edgar-Wallace-Filmen zu produzieren. Aus Sicht des Produzenten eine geniale Idee, aus Sicht echter Cineasten Ausverkauf der eigenen Kultur. Schlimmes ist zu befürchten, doch so schlimm kommt es (erstmal) nicht, denn immerhin führt Harald Reinl Regie, der zusammen mit Alfred Vohrer das auf weiter Flur alleinige Kompetenzduo für zeitgemäßes Genre-Kino auf hochklassigem Niveau bildet. Natürlich fehlen dem Unterhaltungskino alle Bezüge zur aktuellen Gesellschaftspsyche wie in den Fritz-Lang-Klassikern, aber während die Weimarer Republik eine unsichere und morbide Zeit war, in der die Angst vor der Zukunft durchaus berechtigt war, waren die 1960er Jahre fast das Gegenteil. Die Demokratie erstarkte tendenziell, die Abscheulichkeiten der Vergangenheit warteten auf eine gründliche Aufarbeitung. Wo sollte Mabuse da einen Platz haben, außer als Gespenst aus einer vergangenen Zeit, das jetzt einer selbstbewussten Generation als pure Unterhaltung dient?
Um es vorwegzunehmen: Harald Reinl schafft es mit den vergleichsweise oberflächlichen Mitteln des Pulp-Kinos eine Atmosphäre der Angst zu schaffen, die sogar Fritz Langs Vorgänger-Film „Die 1000 Augen des Dr. Mabuse“ übertrifft. Was dort etwas angestrengt wirkt, ist hier ohne Probleme möglich. Die vielen obskuren Gestalten, die übers nächtlich nasse Straßenpflaster geistern, scheinen einer vergangenen Epoche des Horrors zu entstammen. Das düstere „Zuchthaus“ ist ebenfalls ein beklemmender Ort, der Horrorgefühle evoziert. Und nahezu genial ist die Idee, dem entfesselt wahnsinnigem Mabuse die dunkle wie versteinerte Welt von Kirche und Religion gegenüberzustellen. Eine Idee, die bei weiterer Ausarbeitung tauglich gewesen wäre, an die großen Vorgänger künstlerisch anzuknüpfen. Nichtsdestotrotz entstehen auch bei Reinl Bilder, die ich nie vergessen werde. Wenn etwa Pfarrer Brietenstein, dessen düster-asketisches Weltbild tief von der Existenz des Teufels geprägt ist, am Ende nur fasziniert zusehen kann, wie der Teufel Mabuse operiert. Ein Hoch auf den Darsteller Rudolf Fernau! Besser hätte man den Pfarrer unmöglich besetzen können. Auch das Ende des Films bewahrt die Langschen Angstklischees, wenn den manipulierten Probanden unaufhörlich mittels Megaphon eingebläut wird: „Du hast nur einen Herrn und Gebieter: Dr. Mabuse.“ 
Auch bei Harald Reinl wird dem Wahnsinn als funktionierender Kontrast die bürgerliche Bodenständigkeit eines „normalen“ Menschen gegenübergestellt. Gert Fröbe ist dabei selbstverständlich in Hochform. Doch um sich nicht in bundesdeutscher Spießbürgerlichkeit zu verlieren, engagiert Brauner ein schillerndes Paar mit internationalem Flair, die gar nicht viel schauspielern müssen, sondern deren Wirkung schon völlig ausreicht. Die attraktive Israelitin Daliah Lavi und der Traummann Lex Barker lassen die zermürbende Umständlichkeit vergangener Hauptdarsteller der 1950er Jahre vergessen und führen in eine neue Epoche. Überhaupt ist der Film ein Zusammentreffen von unglaublich vielen hochklassigen Darstellern, die dann auch für hochkarätiges Schauspielen zuständig sind: Werner Peters, Rudolf Forster, Wolfgang Preiss, Fausto Tozzi, Ady Berber und viele mehr.
Nun gut, Dr. Mabuses manipulativen Kräfte aus der Zeit der Weimarer Republik wirken in den 1960er Jahren nicht mehr. Dazu benötigt auch das psychiatrische Genie jetzt Chemie, die mittels Spritzen injiziert werden muss.  Wir sind eben beim Pulp. Wenn der aber so gut gemacht ist, dann sind alle Bedenken zerstreut. Harald Reinl schafft es, zum Mabuse-Mythos noch etwas beizutragen und gestaltet „Im Stahlnetzt des Dr. Mabuse“ zu einem Höhepunkt des deutschen Genre-Kinos.

Verfasser: Hans-Jürgen Osmers I Sämtliche Texte unterliegen dem Urheberrecht und dürfen ohne Zustimmung und Quellenangabe nicht anderweitig verwendet werden.