1968 gab es gewaltige gesellschaftliche Umbrüche, die nichts geringeres waren als eine Kulturrevolution. Altes fiel mit einem Mal total aus der Zeit, Neues war noch nicht so recht greifbar. Und genau das spiegelt in der Filmwelt - oder präziser gesagt, in der Karriere des Regisseurs Alfred Vohrer - der Edgar-Wallace-Film „Der Mann mit dem Glasauge“ ganz deutlich wieder. Vohrer, der 1967/68 bereits fünf (!) knallbunte Grusel-Wallace-Filme gedreht hatte, bekam verständlicherweise Lust, etwas neues zu machen. Auch Produzent Horst Wendlandt wollte seine Erfolgsserie auffrischen, denn die Zuschauerzahlen der letzten sieben Filme gingen wellenförmig nach unten. Man hatte mit immer mehr Geisterbahngrusel dagegen gehalten, aber der letzte Film mit einem als Gorilla maskierten Täter war dann endgültig die Form von Horror, die man höchstens auf einem Kindergeburtstag zur drolligen Unterhaltung servieren konnte, während anderswo auf der Welt George Romero “Zombie” drehte oder die Italiener sich auf Giallos einstimmten.
So bekam „Der Mann mit dem Glasauge“ dann wieder etwas mehr Ernst in die Handlung. Ein maskierter Messerwerfer, der eigentlich in einem Dario-Argento-Film etwas hätte werden können, wirkt schon mal viel unheimlicher als vermummte Gestalten in Faschingskostüm.
Auch die plötzlich vielen jungen Frauen, die man immer gerne als Opfer sieht, sollen dem Film in Zeiten der sexuellen Revolution einen modernen und freigeistigen Touch geben. Wir sehen Christiane Krüger, Iris Berben, Marlies Draeger, Heidrun Hankammer oder Ewa Strömberg als Nebendarstellerinnen und fühlen uns manchmal ein bisschen wie in einem Giallo.
Aber der neue Ernst entstand zu einem erheblichen Teil auch durch etwas Melodramatik, die bisher in einem Wallace-Film nichts zu suchen hatte. Bittere Melancholie umhaucht nämlich die tragische Liebesgeschichte von Fritz Wepper und Karin Hübner als unglückliches Paar, torpediert von Friedel Schuster als böse Schwiegermutter. Das fühlt sich ein kleines bisschen an wie in einem Simmel-Film der 1970er Jahre.
Daneben gibt es Gangster ohne Ende. Harry Wüstenhagen, Harry Riebauer, Arthur Binder, Klaus Miedel und gefühlt auch Otto Czarski und Jan Hendriks sind die offensichtlichen Gesetzesbrecher, die sich verhalten, wie man es aus Jerry-Cotton-Exploitation kennt.
Horst Tappert als Inspektor ist ein völlig anderer Typ als die Wallace-Ermittler vergangener Tage - nicht mehr der Frauenbeschützer und potentielle Ehemann, eher ein harter Erwachsener, der in der Lage ist, die wilde Jugend zu ordnen. Das ist nicht mehr die uns bekannte Wallace-Welt, sondern viel näher an einem stilisiertem Realismus, wie zum Beispiel noch deutlicher in den nächsten beiden exzellenten Vohrer-Krimis „Sieben Tage Frist“ (1969) und „Perrak“(1970). Viele bekannte Gesichtern aus vergangenen Tagen sieht man hier in Farbe in einer plötzlich moderneren Welt agieren.
Giallo, Simmel, Jerry Cotton, Vohrers 70er-Krimis: eine spektakuläre Mischung, die funktionieren kann und einen üppigen Unterhaltungswert verspricht!
Aber wo bleibt Wallace?
Gibt’s auch! Natürlich ist der Schauplatz London typisch für Edgar Wallace. Allerdings frage ich mich, warum der Film in London spielen soll, wäre in dieser Stilistik nicht eine deutsche Stadt wie Hamburg passender, härter, realistischer?
Auch der Klamauk kommt aus der Wallace-Film-Tradition. Hubert von Meyerinck, Ilse Pagé und Stefan Behrens feuern kräftig Gags ab, bei denen man seltener lacht und häufiger betreten auf den Boden schaut. Wenn ich diesen Film mal meinen Leuten vorstelle, hab ich immer das Bedürfnis, mich ein bisschen für die verstaubten Gags zu entschuldigen. Und dann diese im deutschen Film dieser Jahre immer wiederkehrende absurde Vorstellung, dass westeuropäische Mädchen in Bordelle der Dritten Welt verfrachtet werden, weil man meint, ausgerechnet da Reibach machen zu können: das sind Schreckensvisionen aus der Kolinialzeit, denen möglicherweise auch der alte Wallace anhing.
Zusammengefasst: Edgar Wallace wird nicht mehr gebraucht - die Geschichte ist sowieso nicht von ihm (die Grundzüge der Story gibt es schon im Bryan Edgar Wallace -Film „Das Phantom von Soho“ und das Buch ist über Drehbuchautor Ladislas Fodor irgendwie zu Horst Wendlandt gelangt)
Stil und Atmosphäre wollen außerdem jetzt auch etwas ganz anderes. Alfred Vohrer weiß das und wird sich klugerweise vom Wallace-Ballast frei machen. Er wird in Zukunft ganz andere, aber ebenfalls gute Kriminalfilme drehen. Den alten Wallace-Stil kann und will man nicht mehr machen - niemand. Die Zeiten sind ganz andere geworden, so ist das Leben.
Zwar hofften die Produzenten Wendlandt und Brauner noch, über den Namen Wallace Zuschauer ins Kino zu locken, so dass noch mindestens sieben weitere Kriminalfilmen den Stempel Wallace aufdrückt bekamen, doch all diese mehr oder weniger guten Filme hatten nichts mehr mit Edgar Wallace zu tun. Wenn Fans unbedingt wollen, dass das auch allesamt Wallace-Filme sind, meinetwegen. Aber eigentlich ist schon 1968 die Zeit für diesen Stil vorbei.
„Der Mann mit dem Glasauge“ bietet einen neuen Mix, der von Vohrer erstmals ausprobiert wird und noch etwas holzig daherkommt. Das wird aber besser werden! Edgar Wallace stört da nur.
Verfasser: Hans-Jürgen Osmers I Sämtliche Texte unterliegen dem Urheberrecht und dürfen ohne Zustimmung und Quellenangabe nicht anderweitig verwendet werden.