Die 1000 Augen des Dr. Mabuse (1960)

Im Nirwana zwischen den Welten

Ein merkwürdiger Film. Damals ein Publikumserfolg, heute ein für viele blasser Streifen.
Ist der Film große Kunst des legendären Regisseurs Fritz Lang oder doch nur eine harmlose Variation der zur Entstehungszeit so erfolgreichen Edgar-Wallace-Filme? 
Knüpft Fritz Lang an die düster expressionistischen Mabuse-Meisterwerke der Vorkriegszeit an oder steht er jetzt doch nach Jahren in Hollywood einem realistischerem Stil näher?
War er begeistert bei der Sache oder hat er sich vom Produzenten Artur Brauner nur überreden lassen, den längst verstorbenen Mabuse wieder auf Zelluloid zu bannen?
Alles ist halbwegs richtig und genau das ist das Problem. Die Kritiker verrissen den Film im Vergleich zu Fritz Langs Weltgeltungswerken „Dr. Mabuse, der Spieler“ (1922) und „Das Testament des Dr. Mabuse“ (1932/33) und nach dem anfänglichen Publikumserfolge sahen viele Zuschauer doch lieber „Die toten Augen von London“, in dem expressionistische Elemente und zeitgemäße Lust am Trivialkino eine knallige Mischung ergaben. Man kann verstehen, dass es Fritz Lang Jahrzehnte nach dem expressionistischem Horrorfilm nahezu albern erschienen wäre, noch einmal so tief in die Mottenkiste zu greifen. Zudem hatte er in Amerika viele Krimis in einem völlig eigenen Realismus gedreht, dem man erstmals schon ein wenig in „M - eine Stadt sucht einen Mörder“ (1930) begegnet. 
Spielt „Die 1000 Augen des Dr. Mabuse“ eigentlich in West-Berlin? Oder einer anderen deutschen Großstadt? Oder in einer Stadt, die es nur in der Fantasie gibt? Ich weiß nicht mehr, ob es im Film eindeutige Hinweise zum Schauplatz gibt, aber der Ort scheint auf eine sonderbare Weise unbestimmt zu sein. Auch die Figuren tragen Namen, die eine ungreifbare Internationalität suggerieren: Marion Menil, Peter Barter, Dr. Jordan, Cornelius. Wenn es denn doch erkennbar deutsche Namen sind, dann sind diese auch höchst seltsam: Kommissar Kras oder Hieronymus Mistelzweig. Der furchteinflößende Ehemann gar wird statt namentlich nur „Klumpfuß“ genannt. Auch die Besetzung ist sehr eigenartig. Die Britin Dawn Addams spielt die weibliche Hauptrolle, der Deutsch-Amerikaner Peter van Eyck die männliche Hauptrolle, die Nebenrollen sind eine verwirrende Mixtur aus Franzosen, Schweizer, Italiener und anderen. Daneben die deutschen, aber im internationalen Film erfahrenen Hochkaräter Gert Fröbe, Wolfgang Preiss und Werner Peters und in einer Nebenrolle der Dramaturg des Berliner Schiller-Theaters Albert Bessler, bevor er eine kleine Ikone der Edgar-Wallace-Filme wurde. Außerdem spielt ein gewisser Lupo Prezzo mit, ein erfreulicher Gag der Filmemacher, aber da ich nicht spoilern will, schreibe ich dazu auch nichts Weiteres…
All diese Diskrepanzen haben den Vorteil, dass zwar ein „merkwürdiger“, aber trotzdem ganz singulärer Film entsteht, zu dem es absolut nichts Vergleichbares gibt. Das sollte man feiern!
Die Story begeistert schon einmal durch die höchst mysteriöse Story. Nachdem ein Fernsehreporter aus einem Auto heraus von dubiosen Männern einer geheimen Organisation erschossen wird, geraten wir in eine Welt, die kurz vor einer Katastrophe zu stehen schein, ohne irgendeine Vorstellung von Ursachen und Zusammenhängen zu haben. Wir lernen eine depressiv psychotische Frau kennen, die mit einem Sprung aus den oberen Etagen eines Luxushotels einen spektakulären Suizid begehen möchte, einen amerikanischen Multimillionär, der sie knapp rettet; ihren klumpfüßigen Ehemann, der ein menschliches Monster ist; einen bourgeoisen Psychiater, der alles daran setzt, sie zu schützen; einen Versicherungsvertreter (Werner Peters in superlativer Form!), dessen überbordende Lust auf Kalauer viel mehr befremdet als erheitert und schließlich einen blinden Hellseher, der stets aufgeregt vor einem nahenden großen Unheil warnt. Dass alle Aktionen stets über geheime Kameras von Unbekannten beobachtet werden, gibt uns den Eindruck, alles könnte ein makabres Spiel mit Menschen sein, die wie Mäuse im Käfig panisch herumirren, ohne sich der eigenen Situation wirklich bewusst zu sein. Im gleichen Maß, in dem sich allmählich die Geheimnisse lüften, verliert die Atmosphäre an Mystizismus und der bürgerliche Kommissar Kras gewinnt Oberwasser. Und am Ende ist es dann doch wie in einem gewöhnlichen Kriminalfilm mit dem üblichem Superverbrecher. Die Verfolgungsjagd ist meilenweit profaner als die tiefenverstörende Fahrt in „Das Testament des Dr. Mabuse“ von 1933, aber andererseits auch noch meilenweit entfernt von den technischen Schauwerten kommender Agaentenfilme. Und dann erweist sich Dr. Mabuse schließlich nur als eine Art Butzemann aus Kindergeschichten – klassisch ausgestattet mit schwarzem Umhang und großem Hut. Anscheinend schien es Fritz Lang im Jahr 1960 nicht mehr möglich, das Publikum in die erschreckende Welt des Wahnsinns zu führen. Stattdessen führt der Film ins Genre-Kino der 1960er Jahre. Düsterer, hölzerner und deutscher als die Edgar-Wallace-Filme. Während Produzent Artur Brauner eine Mabuse-Serienproduktion anstrebte, war Fritz Lang nicht mehr zu weiterem bereit. Schon bei den Dreharbeiten dieses Films war seine Laune nicht gerade in Hochstimmung und besonders Peter van Eyck bekam das zu spüren, obwohl gerade der eigentlich eine exzellente Besetzung war, mit der sich der Film deutlich von der Krimikonkurrenz der Zeit abgrenzte. Er sollte eines der markanten Gesichter der kommenden Mabuse-Reihe werden, genauso wie auch Gert Fröbe, dessen beeindruckende Darstellung des bodenständigen und bürgerlichen Kommissars mindestens auf dem gleichen Level wie seine negativen Rollen lag. 
Fritz Langs dystopische Vision von einer Welt, in der jeder für die Zwecke eines anderen beobachtet und durchleuchtet wird, ist Jahrzehnte später längst Alltagsrealität, in „Die 1000 Augen des Dr. Mabuse“ besonders aus heutiger Sicht etwas naiv umgesetzt. Mabuse hätte die Schockqualität vertragen, die im gleichen Jahr Hitchcock mit Psycho auslösen konnte oder Orson Welles 1962 mit „Der Prozeß“. Übertreibe ich? Nein, denn eigentlich steht Langs Name ebenbürtig zu diesen Regisseuren. Aber das wäre mit Artur Brauner alles auch soweit gar nicht machbar gewesen, den seine visionäre Ambition ist deutlichst geringer, als es heutzutage kolportiert wird. 
Zwischen Tradition und Aufbruch in den 1960er Jahren, zwischen USA und Deutschland, zwischen Kunst und Artur Brauners Serien-Absichten ist es für den Erschaffer von „Metropolis“, „M – eine Stadt sucht einen Mörder“ und den Mabuse-Klassikern das Beste, sich aus dem Filmgeschäft zurückzuziehen. Statt von Legende zum Serienregisseur zu werden, taucht er lieber noch einmal in Jean-Luc Godards „Die Verachtung“ neben Michel Piccoli und Brigitte Bardot auf, plaudert über Kino und trinkt Wein in der Sonne mediterraner Gefilde. Eine kluge Entscheidung! Die schwarz-weißen Albträume aus der deutschen Historie sind nun endgültig Vergangenheit.

Verfasser: Hans-Jürgen Osmers I Sämtliche Texte unterliegen dem Urheberrecht und dürfen ohne Zustimmung und Quellenangabe nicht anderweitig verwendet werden.