1962 befinden wir uns auf dem Höhepunkt der Wallace-Welle: die Filme sind kommerziell außerordentlich erfolgreich und andere Produzenten werfen deshalb viel Ähnliches auf den Markt. Doch Produzent Horst Wendlandt hat nicht nur die beste Crew, sondern auch genau die Leute, die Maßstäbe für das Genre setzen können und den Wallace-Filmen ein ganz unverwechselbar eigenes Gesicht geben. Nachdem Harald Reinl und Jürgen Roland erfolgreich den Boden für das Genre ausgebreitet hatten, gab Regisseur Alfred „Freddy“ Vohrer den Filmen ihren unverwechselbaren Stil.
Seine ersten beiden Wallace-Filme „Die toten Augen von London“ und „Die Tür mit den sieben Schlössern“ waren im Vergleich sowohl kommerziell als auch künstlerisch herausragend, weil filmästhetisch völlig eigenständig innerhalb des Krimigenres.
Horst Wendlandt wusste, was er an Vohrer hatte und Vohrer wiederum war motiviert, seinen Stil exzessiv auszuarbeiten. An Vohrers dritten Film ging man deshalb mit breitem Selbstbewusstsein und der unbeirrbaren Überzeugung, einen Klassiker auf die Beine stellen zu können. Die gute Laune des Teams überträgt sich mühelos auf das Publikum, und: Ja, das Vorhaben ist den Machern gelungen!
Nach der kurzen stimmungsvollen Harpunenmordszene hören wir erstmals „Hallo, hier spricht Edgar Wallace“ und darauf einen lässigen Gute-Laune-Bigband-Sound mit breiter Bariton-Saxophon/Posaunen-Melodie und eingesprenkelten Scream- und Gaggeräuschen. Komponist Martin Böttcher hat ganze Arbeit geleistet. So wünscht man sich den Sound zu einem Krimi, der Spaß macht. Wir lehnen uns also zurück und freuen uns auf beste Unterhaltung. Gleich werden in das berüchtigte Gasthaus an der Themse geführt: Nikotinnebel in der überfüllten Lasterhöhle, betrunkene Matrosen, leichte Mädchen und die Flickenschildt singt ein Chanson über alles, was in der Nacht geschieht. Im Nachhinein entpuppt sich die Titelmusik als Instrumentalversion dieses Chansons. Welch ein super Opening! Man weiß schon jetzt, dass dieser Film eine gute Wahl war. Das damalige Kinopublikum machte „Das Gasthaus an der Themse“ dann folglich auch mit fast 4 Millionen Besuchern zum größten Erfolg der Edgar-Wallace-Filmreihe.
Joachim Fuchsberger und Brigitte Grothum machen einen großartigen Job als Retter und Gerettete. Die Geschlechterklischees der frühen 1960er Jahre und die Werteambitionen unserer Zeit vergleichen wir an dieser Stelle mal besser nicht, sondern nehmen hin, dass jede Zeit ihre Normen und Werte hat. Dann kommt unser Film in der Bewertung nämlich auch viel besser weg. Großartig ist vor allem Elisabeth Flickenschildt in der Rolle der Gasthaus-Wirtin. Sie singt mit verlebten Timbre das Chanson von der Nacht und mausert sich zu einer Ikone des deutschen Films. Ich wage zu behaupten, dass die Flickenschildt ohne diesen Film ( und ohne „Das indische Tuch“) heute wesentlich unbekannter wäre. Die Spelunkenchefin hat ihr Schauspielerinnen-Image der einschüchternden reifen Überfrau bis heute nachhaltig geprägt, was beweist, dass hier etwas außerordentliches gelungen ist. Klaus Kinski hat einen seiner legendärsten Auftritte als „Gubanov - Gewürze Im- und Export“; Jan Hendriks etabliert sich hier endgültig als Darsteller frech-dreister Krimineller; Richard Münch sorgt mit exzentrischem Spiel für eine der besten Entlarvungsszenen; Heinz Engelmann zeigt, dass er neben Inspektoren auch unseriöse Typen perfekt darstellen kann; Eddi Arent und Siegfried Schürenberg sind die unverzichtbaren Typen geworden, die uns in dieser Filmwelt heimisch fühlen lassen und Nebendarsteller wie Hela Gruel, Rudolf Fenner oder Hans Paetsch liefern beste Kabinettstückchen ab.
Kultig sind vor allem Idee und Umsetzung, nicht nur das Gasthaus, sondern auch die Themse als Schauplatz regelrecht zu zelebrieren, denn es geht nämlich tief ins dreckige Nass hinein. Schließlich kann man ja einmal Elbe und Alster nutzen, wenn man schon in Hamburg einen Film dreht. Mit Unterwasserszenen zwischen Kanalisation und Hafenbecken bekommen wir stilbildende Aufnahmen und Geräusche angeboten, die sich als Wallace-typisch ins Gedächtnis einbrennen und später in „Der Hexer“ noch einmal zurückkehren.
Alles rosarot? Wenn man unbedingt noch meckern will, dann könnte man kritisieren, dass die Wirtin ein dramaturgisch durchdachteres Verhältnis zum Drahtzieher und damit ein konsequenteres Ende wie im Roman haben könnte. Aber angesichts dieses sonst perfekten Blockbuster sollten wir uns die gute Laune nicht mit Kleinkariertheit verderben lassen.
Alfred Vohrer hat seinen spezifisch exaltierten Stil in den nächsten drei Wallace-Filmen wesentlich weiter ins Extrem gesteigert. Für die Wallace-Fans, die das weniger honorieren, ist „Das Gasthaus an der Themse“ im Verhältnis dazu weniger bizarr und somit besser verdaulich geblieben, so dass der Streifen den verschiedensten Geschmäckern entgegenkommen dürfte.
Auch nach 60 Jahren ist dieser Film noch immer sicherer Garant für einen unterhaltsamen Abend mit guter Laune und gehört zum besten, was Horst Wendlandt uns in Sachen Edgar Wallace anzubieten hatte. Ein echter Klassiker.
Verfasser: Hans-Jürgen Osmers I Sämtliche Texte unterliegen dem Urheberrecht und dürfen ohne Zustimmung und Quellenangabe nicht anderweitig verwendet werden.