Im Berlin der 1920er Jahre fanden sich die verschiedensten politischen, und kulturellen Strömungen. Die interessanteste Stadt der Welt beherbergte eine unglaubliche hohe Zahl Intellektueller und Künstler, die auch heute noch weltweite Relevanz haben. Einer davon war Fritz Lang, Pionier und Meister des Abenteuer- , ScienceFiction und Kriminalfilms. 1922 entstand nach dem Roman von Norbert Jacques sein monumentaler Kriminalfilm „Dr. Mabuse, der Spieler“ mit einer Länge von 3 1/2 Stunden. Die schwer zu deutende und dennoch faszinierende Gestalt des Dr. Mabuse wurde zu einem Mythos deutscher Filmkultur. (Im November 2022 gibt es in Berlin eine Neu-Aufführung des Kolossalkrimis mit neu vertonter und sehr gelungener Musik von Mark Scheibe).
Auch Walter Rilla lebte in den 1920er Jahren in Berlin. Er hatte in Königsberg, Breslau und Berlin Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte studiert und sein Ziel war es, Schriftsteller zu werden. Da man aber auch Geld verdienen muss, arbeiteten Autoren in spe als Journalisten für Zeitungen und Zeitschriften. Walter Rilla sah sehr gut aus und hatte ein freundliches einnehmendes Wesen. Seine Bildung und Klugheit wirkten anziehend und so hatte er auch in seinem Milieu exzellente Kontakte. Er wagte es, mit „Die Erde“ ab 1919 eine Zeitschrift für zeitgenössische Literatur herauszugeben und kam in Kontakt mit fast allen Größen der Literatur. Zum Beispiel waren darunter Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Heinrich Mann und Thomas Mann. Mit letzterem hatte er sogar eine Art Freundschaft. Politisch engagierte er sich in der KPD, innerhalb der er sogar am äußersten linken Rand stand.
Die Nähe zum Proletariat ließ ihn auch das zumindest damals als Trivialkultur empfundene Kino akzeptieren. Auch Jahrzehnte später dürfte das ein Grund für Rillas Schauspielkarriere gewesen sein. Seine Mitwirkung als Darsteller in Stummfilmen war zunächst noch eine Nebenbeschäftigung für Spaß und Geld. Wie er speziell zu Fritz Lang und Dr. Mabuse stand, ist leider nicht recherchierbar, aber ganz sicher kannte er den Film.
Rilla kam mit seiner Zeitschrift immer mehr in Schwierigkeiten. Als Schriftsteller und Herausgeber hatte er natürlich auch gute Kontakte zu Theatern, um zusätzlich als Dramaturg und später auch Regisseur und sogar Darsteller zu arbeiten.
1933 wurde es ungemütlich für Walter Rilla: seine mittlerweile bankrotte Zeitschrift stand für entartete Kunst, politisch war er sehr weit links und er hatte inzwischen eine jüdische Frau geheiratet. Das Ehepaar ging zunächst nach Wien, dann nach London. Da Walter Rilla sehr gut englisch sprechen konnte (was in dieser Generation eine Seltenheit war) und über seine literarischen Tätigkeiten selbst in London gute Kontakte hatte, fasste er erstaunlich schnell Fuß und arbeitete viel und erfolgreich als Schriftsteller, Regisseur und Schauspieler vor allem für BBC. Anlässlich einer Buchveröffentlichung kam Walter Rilla in den späten 1950er Jahren erstmals wieder nach Deutschland. Rillas Frau war schon 1948 verstorben und sein Sohn Wolf Rilla war selbst ein erfolgreicher englischer Regisseur („Das Dorf der Verdammten“, 1960). Rilla hatte außerdem Probleme und Reibereien mit der BBC. Als Erika Mann ihn bat, im Kurt-Hoffmann-Film „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ nach Thomas Mann eine Rolle zu spielen, sagte er somit zu und übersiedelte zurück nach Deutschland. Hier galt er als eine vornehme Kulturinstanz, als ein kluger Mann, der alle erdenklichen Kontakte zu den Größen seiner Zeit gehabt hatte. Und Walter Rilla war wie damals auch bereit, in publikumsnahen Filmen mitzuwirken.
Der Ex-Londoner spielte gerne die Titelfigur in dem Edgar-Wallace-Krimi „Der Fälscher von London“ (1961). Seine Rollen in Kriminalfilmen der 1960er Jahre waren meist seriöse und gebildete ältere Herren, deren noble und humanistische Weltanschauung mit den Handlungen übler Verbrecher konfrontiert wird. („Edgar Wallace: Zimmer 13“, 1964 ; „B.E.Wallace: Das siebente Opfer“,1964; „Vier Schlüssel“, 1965 ; „Ich, Dr. Fu Manchu“, 1965 uvm). Am nachhaltig eindrucksvollsten war das wohl in dem Fernsehspiel „Die zwölf Geschworenen“ (1963).
Filmproduzent Arthur Brauner allerdings hatte eine ganz andere Idee: Walter Rilla als 1920er-Kulturlegende könne doch selbst den Dr. Mabuse spielen!
Brauner und Regisseur Werner Klingler vergriffen sich 1962 an dem Fritz-Lang-Klassiker „Das Testament des Dr. Mabuse“ (1933) und brachten ein sorgfältiges, aber blutleeres Remake auf den Markt. Rilla als Prof. Pohland übernahm von Wolfgang Preiss die Rolle des Mabuse. Selbst wenn dieser und die beiden folgenden leider etwas zu infantilen Mabuse-Filme bei weitem nicht mehr die Wirkung hatten, die einst Fritz Langs Filme hatten, so war doch die Diskrepanz zwischen Rillas gutem und gebildeten älteren Herren und der Figur des Mabuse sehr gelungen. So reizvoll diese Aufgabe war, war es doch für den Darsteller eher nur eine kuriose Seitenbeschäftigung.
In den 1970er Jahren arbeitete Walter Rilla in bereits gehobenem Alter verstärkt wieder für die Hochkultur. Er führte Regie an Theatern, schrieb sowohl Dramen als auch eine als Roman versteckte Autobiografie und wirkte in einigen wenigen ambitionierten Filmen mit, wie zum Beispiel in Harry Kümels psychedelischem Horror-Rausch „Malpertius“ (1971).
Heute, viele Jahrzehnte nach Walter Rillas Tod ist nicht mehr viel geblieben von seiner Literatur, von seinen Dramen und seiner Zeitung. Nur Experten wissen noch darum. Sein buntes Leben scheint der Vergessenheit anheimzufallen. Als Schauspieler ist sein Name lediglich noch einigen Fans bekannt. Es ist schon seltsam, dass Walter Rilla heutzutage ausgerechnet als Dr. Mabuse wahrgenommen wird. Dr. Mabuse, der Spieler, stand in der Weimarer Republik für Expressionismus, Chaos und wilde Kultur. Und Dr. Mabuse lebt!
Verfasser: Hans-Jürgen Osmers I Sämtliche Texte unterliegen dem Urheberrecht und dürfen ohne Zustimmung und Quellenangabe nicht anderweitig verwendet werden.