Ab wann ist man ein Star?
Wenn man Hauptrollen spielt? Wenn man Kassenmagnet ist? Wenn man jedes mal beim Einkaufen angequatscht wird? Oder man als Idol von 1000 Teenies kopiert wird? Und ab wann kann man sich Star nennen, als Star fühlen?
Marisa Mell, geboren als Marlies Moitzi, aus der Steiermark wusste schon, dass sie Filmstar werden wird, bevor sie zur Schauspielschule in Wien ging. Genauso attraktiv wie talentiert konnte sie singen, tanzen und spielen und hatte eine Ausstrahlung, die keinen Zweifel an ihrer Vision aufkommen ließ. Dabei war sie nicht so oberflächlich wie viele egozentrische Starlets, sondern tatsächlich tiefsinnig und klug.
Da sie felsenfest davon überzeugt war, dass sie nicht nur ein nationaler, sondern ein internationaler Filmstar werden würde, nannte sie sich: Marisa Mell!
Auch für die Bühne hatte sie großes Talent, aber das Theater interessierte sie eigentlich nicht. Ein erstes Engagement in Wien nahm mit der fristlosen Kündigung ein desaströses Ende, denn Marisa Mell hatte schlichtweg eine Abendvorstellung vergessen und das Publikum musste nach Hause geschickt werden . Bei all ihren Vorzügen war nämlich Unzuverlässigkeit in jeder Hinsicht ihr großer Nachteil. Sie lernte ihre Texte selten gründlich, kam oft zu spät und hatte einen Hang zunächst nur zu zu vielen Zigaretten.
Aber der Erfolg kam trotzdem, und zwar beim Film, der ihr Ziel war. Größere Rollen als Töchter in der Spätpubertät waren ab 1959 ihr Fach in einigen Filmen, von denen „Ruf der Wildgänse“ vielleicht der wichtigste war. Und dann kam auch schon Edgar Wallace: In „Das Rätsel der roten Orchidee“ (1962) spielte sie die weibliche Hauptrolle Lilian Ranger, die von Adrian Hoven, Pinkas Braun und sogar Fritz Rasp begehrt wird. Wenn in der Darstellung auch noch nicht alles so rund lief wie bei Kollegin Karin Dor, so verbreitete sie doch schon eine sehr besondere Aura von Glamour. Eine Darstellerin, auf deren weitere Karriere man gespannt ist. Aber es kam ganz anders.
Ein Autounfall stoppte die Karriere 1963 und Marisa Mell hatte Glück, dass von ihren schweren Gesichtsverletzungen nur eine kleine Stelle an ihrer Lippe übrig blieb, vielleicht sogar ein Markenzeichen wurde.
Die sprachbegabte Marisa Mell spielte danach immer häufiger im Ausland, besonders häufig und gern in Italien, schließlich zog sie auch in ihre neue Wahlheimat Rom.
Als die Wallace-Farbfilme in Deutschland wenig mit ihren Hauptdarstellerinnen glänzten, mit Monika Peitsch und Uschi Glas auch konventionell und recht bieder besetzt waren, spielte mit Lust und Leichtigkeit Marisa Mell die Hauptrolle in dem psychedelisch bunten Knaller „Diabolik“ (1967) als comichaftes Sexploitationgirl, das sich am liebsten unter Scheinen im Geldspeicher ihres Geliebten, des Superverbrecher Diabolik, räkelt. Ihre Filmpartner waren John Phillip Law, Adolfo Celi und Michel Piccoli. Hätte sie doch bloß auch noch eine Hauptrolle in einem Vohrer-Farbfilm gehabt! Die deutschen Darstellerinnen hingegen pendelten in jener Zeit zwischen biederen Rollen, üblen Heubodenlustspiel-Bayerinnen oder problematischen 68er Studentinnen, ganz weit weg von italienischem Stil und lebendigem Selbstverständnis.
Ein anderer unbedingt erwähnenswerter italienischer Film ist „Nackt über Leichen“ (1969), zwar ein wirklich peinlicher deutscher Verleihtitel, aber ein interessanter Giallo mit Marisa Mell in einer Doppelrolle, die in ihrer fantastischen Ästhetik sehr an Hitchcock, vor allem an „Marnie“ erinnert. Nur, dass Marisa Mell selbstverständlich noch attraktiver ist als Tippi Hedren.
Und wieder denke ich, wie schade, dass die Mell nicht zum Beispiel in den tristen Spät-Wallace „Die Tote aus der Themse“ etwas Star-Glamour bringen konnte.
Doch ganz am Schluss geschieht ein kleines Wunder: nach 10 Jahren kehrt sie - inzwischen internationaler Star - kurz zu Wallace zurück. Im letzten offiziellen Rialto-Wallace “Das Rätsel des silbernen Halbmonds” (1972) - eigentlich vielmehr ein Giallo als ein Wallace-Film - spielte sie eine Gastrolle. Ein wenig Starglanz also doch in letzter Minute!
Während andere brave deutsche Schauspielerinnen ihr Leben in den kommenden Jahrzehnten in den Dienst biederer Fernsehunterhaltung stellten, verlief Marisa Mells Leben stargemäss immer weiter bergab. Zigaretten, Alkohol, Unzuverlässigkeit, fehlende Angebote, kein Geld, Frust, noch mehr Alkohol und schließlich Speiseröhrenkrebs führten zu einem frühen Ende.
Verfasser: Hans-Jürgen Osmers I Sämtliche Texte unterliegen dem Urheberrecht und dürfen ohne Zustimmung und Quellenangabe nicht anderweitig verwendet werden.