Melancholie im Schreckenskabinett
In einschlägigen Filmlexika wird immer wieder stoisch behauptet, die Wallace-Filme seien beliebige Serienprodukte, die in ihrer naiven Machart wie ein Ei dem anderen glichen. Es erspart den Redakteuren natürlich viel Arbeit, sich nicht detaillierter mit der Materie beschäftigen zu müssen. Dass im Kriminalfilm-Genre durchaus konzeptionell sehr unterschiedliches probiert wurde, beweist einmal mehr Artur Brauners Bryan Edgar Wallace-Film „Der Henker von London“.
Der ambitionierte Österreicher Edwin Zbonek, renommierter Burgtheater-Regisseur und verantwortlich für das preisgekrönte KZ-Filmdrama „Mensch und Bestie“ (1963) mit Götz George, hat selbstverständlich eigene Vorstellungen, wie man mit einem Wallace-Stoff umgehen sollte. Ein Mann aus der Hochkultur nahm den Stoff natürlich erst einmal wenig ernst. Die Möglichkeit, daraus eine knallige Show mit Selbstreflexion und parodistischen Gags zu machen, hatten bereits Jürgen Roland und Alfred Vohrer vorgemacht, das wollte der ambitionierte Regisseur nicht einfallslos wiederholen. Das Gegenteil schien ihm die Lösung und so plante er den Stoff als holzschnittartiges Schauertheater, wie einst auf Jahrmärkten üblich, ohne jede Selbstironie. „Grand Guignol“ nennt man diesen Stil. Humor sollte ausschließlich vom dafür zuständigen Sidekick, in diesem Fall Chris Howland kommen. Damit liegt „Der Henker von London“ stilistisch näher an den britischen Horrorfilmen der Hammer-Produktion als jeder andere Wallace-Film. Und damit ist Zbonek der einzige Regisseur der schwarzweißen Bryan Edgar Wallace, der etwas Eigenständiges versucht und nicht die Rialto-Wallace-Filme zum ultimativen Vorbild nimmt.
Schon in der Eröffnungsszene werden alle Zutaten zum Schauerstück deutlich präsentiert: vermummte Gestalten, Katakomben, Särge, Leichenzug, Nebel, eine Hinrichtung. Wer bei Wallace den Grusel-Touch erhofft hatte, konnte sich im Kinosessel zufrieden zurücklehnen. Dem Konzept gemäß sehen ersten Szenen bei Scotland Yard ganz anders aus als in den Rialto-Filmen. Hier fällt besonders auf, dass der Scotland-Yard-Chef in der Darstellung von Wolfgang Preiss ein ernstzunehmender Charakter ist, anders als die Vorgesetzten-Parodien des von Siegfried Schürenberg dargestellten Sir John in den Rialto-Produktionen. Alles Humoristische fehlt völlig, bis der dafür zuständige Chris Howland auftaucht. Humor ist hier streng abgekoppelt vom sonstigen Geschehen. Die Idee, Howland in immer neuen Maskeraden auftreten zu lassen, passt zwar ausgezeichnet in das Grand Guignol-Konzept, aber Humor ist leider ein Feld, das stark von dem Geschmack der Zeit abhängig ist und Jahrzehnte später hoffnungslos schal wirken kann. Die beste Idee des Films ist dem Dürrenmatt-Stück „Die Panne“ entnommen: ein pensionierter Richter (Rudolf Forster) und sein ergebener Butler (Rudolf Fernau, großartig!) spielen am späten Abend Gerichtsszenen mit anschließenden Verurteilungen zur Todesstrafe nach, um ihre dunklen sadistischen Gelüste zu befriedigen. Schauertheater im Schauerstück! Doch Zbonek reichen die die Szenen mit den Henkermorden in den Katakomben und mit den Todesurteilverkündungen im düsteren Richterhaus noch nicht. Es fehlt ihm noch ein wahnsinniger Wissenschaftler, dessen Begehr es ist, wie Dr. Staletti in „Die Tür mit den sieben Schlössern“ (1962) Menschen den Kopf abzuschneiden. Das verdient eine ausgedehnte Extraepisode im Handlungsstrang! Und wer wäre ein passenderer Gruselarzt als Dieter Borsche! Seine brillante Darstellung des Dr. Ferguson ist so etwas, wie die Zusammenfassung seiner Kriminalfilmrollen: umständlich, eckig, hinterlistig, böse. Man kann allerdings verstehen, dass er vom Krimifach zunächst genug hatte, bevor er ins allzu routinierte Chargieren abgleiten sollte. Aber was wäre solch ein Unhold ohne verfolgte Unschuld? Mit Maria Perschy wird dieses Rollenfach in die Superlative gesteigert. Waren die Hauptdarstellerinnen vorangegangener Filme immer noch junge Frauen, deren brave Bürgerlichkeit neben Attraktivität einen wichtigen Pluspunkt brachte, so erleben wir hier die knallige Mischung aus hoher erotischer Anziehungskraft und graziler Zerbrechlichkeit. Das brachte Maria Perschy sofort in Hollywood eine Hauptrolle in Howard Hawks „A man´s favorite sport“ (1964) ein. Die Stilisierung dieses Typs funktionierte auch in negativen Pulp-Charakteren wie im ersten „Kommissar X“-Film sowie dem amerikanischen „Die Hexe ohne Besen“ ausgezeichnet. Eine Rolle bei James-Bond wäre eigentlich naheliegend gewesen.
Die schaurige Welt in „Der Henker von London“ hätte gut einen energischen Helden vertragen, dessen Härte bei der Auflösung ins Erschreckenden mutiert wäre. Das hätte die Story logisch und rund aussehen lassen. Außerdem wäre das Thema Selbstjustiz eindeutig negativer abgestempelt worden, welches hier zweischneidig erscheint, ja, sogar unheilvolle Pluspunkte macht. Hansjörg Felmy war der ewige Hamlet des deutschen Films (selbst noch als Heinz Haferkamp im „Tatort“). Seine immer hochklassigen Darstellungen melancholischer und unentschlossener Helden stehen hier aber in einem seltsamen Kontrast zur Story. Möglicherweise wäre er in der Rolle des von Harry Riebauer dargestellten Polizeiarztes viel glücklicher besetzt gewesen.
Der Kriminalfilm mit „Toch of gothic horror“ ohne Selbstironie, angeführt von einem melancholischen Helden, strahlt im Resümee eine gewisse Schwere aus. Der wuchtig dunkle Soundtrack von Raimund Rosenberger unterstreicht das. Edwin Zboneks Konzept konnte sich zwar nicht für weitere Filme durchsetzen, aber immerhin ist „Der Henker von London“ ein ganz singulärer Film weit weg von beliebigem Serienprodukt. Das macht ihn besonders. Ich empfehle diesen Film für Karfreitag und ähnliche Festtage.
Verfasser: Hans-Jürgen Osmers I Sämtliche Texte unterliegen dem Urheberrecht und dürfen ohne Zustimmung und Quellenangabe nicht anderweitig verwendet werden.