Als ich so um 1990 extrem spät nachts in einer Bremer Jazzkneipe mit einem etwas verbittert wirkenden Mann neben mir am Bartresen ins Gespräch kam, stellte ich hochinteressiert fest, dass der leicht angetrunkene Mann ein gestandener Filmkritiker war - Germanistik, Politik und irgendetwas mit Kultur hatte er studiert und war spezialisiert auf den Deutschen Film.
Er war einer derjenigen, die Adorno anhimmelten und für die ein guter Film nur gut war, wenn der Film eine politische Agitation war. Filmästhetik kam erst weit danach und wurde als notwendiges Handwerk begriffen. Als ich nebenbei das Thema „Edgar-Wallace-Filme“ auf den Tresen warf, überfiel Ekel sein Gesicht und angewidert zog er seinen Kopf zurück. „Das ist doch totaler Mist, ein Film schlechter als der andere“, sagte er und meinen Einwand, dass die knapp 40 Filme ein sehr unterschiedliches Niveau hätten, ließ er gar nicht gelten. „Mist ist Mist!“ lallte er mittlerweile etwas böse. Eigentlich war alles in den Augen dieses Zynikers Mist, was in Deutschland gedreht wurde. Einiges aus den 1920er Jahren akzeptierte er wohlwollend und ansonsten galt sein Interesse nur dem „Neuen deutschen Film“ von Kluge, Fassbinder, Herzog, Schlöndorff und anderen. Ich hatte den Eindruck, selbst von denen würde er 90 Prozent verreißen. Nun gut, ein mit Mescal angetrunkenerer einzelner zynischer Filmkritiker um drei Uhr nachts in der Bar. Aber: er steht für die meisten Kritiker seiner Generation. „Opas Kino ist tot“ - so hieß es in den späten 1960er Jahren, „der Neue deutsche Film kommt“. Es ist, als wenn man eine neue Liebe hat: die alte Liebe kann sagen, was sie will, sie interessiert nicht mehr. Viele der sogenannten 68er hatten die Edgar-Wallace-Filme nämlich im Kino gesehen und seinerzeit durchaus als modern empfunden, wollten aber später nichts mehr davon wissen. Andere wiederum waren so verkopft, dass die lustvoll gemachten Wallace-Filme sie nicht erreichen konnten.
Das heißt: wenn sich überhaupt ein Filmkritiker dazu herabließ, einen Wallace-Film zu kritisieren, dann durfte das nur ein zynischer Verriss sein, der oft noch zusätzlich durch seine Kürze die Unerheblichkeit dieser Filme betonen sollte. „Der Spiegel“ tat sich damals besonders hervor. Statt einer auch nur kurzen Betrachtung des Films schrieb das Blatt zum Beispiel noch in den 1980iger Jahren zur Fernsehpremiere von „Das Rätsel der roten Orchidee“ nur: „Zur Verblödung des Publikums sendet die Mainzer Fersehanstalt einen weiteren Edgar-Wallace-Film“. Das war das Schicksal dieser Filme, sie wurden einfach ignoriert.
Zur Enstehungszeit schrieben natürlich die Tageszeitungen etwas. Das „Hamburger Abendblatt“ und viele andere deutsche Tageszeitungen werden bei Wikipedia oft zitiert, doch geschieht das meist in kurzen Sätze, die eine sehr oberflächliche Wertung beinhalten und für den nächsten Tag nur so viel bedeuteten wie „ ja, geh ins Kino, den Film kann man sich ansehen“. Wie sollten auch die Redakteure damals ahnen, dass ihre kurzen Allgemeinsätze für die nächste Ausgabe dann sechzig Jahre später für Wikipedia herangezogen wurden und jetzt immer einsehbar für jedermann sind. Die kurzen wohlwollenden Allgemeinsätze von Fernsehzeitschriften in den 1980er Jahren anlässlich einer TV-Ausstrahlung waren dann sogar richtig unseriös, denn bei den Statements muss man sich fragen, ob die Schreiber den Film je gesehen hatten.
Was den „seriösen Kritikern“ der deutschen Filmszene aber zunehmend unbehaglich wurde, war der überragende Fernseherfolg der Wallace-Filme in den 1970er und 80er Jahren, denn stoisch hatten die meisten Experten behauptet, dass diese „schlechten Filme“ bald vergessen sein würden. Mein Barnachbar tat das auch, selbst 1990 noch.
Also gab es erste Ansätze, sich doch wenigstens ein bisschen mit dem Thema zu beschäftigen.
Erstmals kam mit den Citadel Filmbüchern des Goldmann-Verlages im Buch „Der neue deutsche Film 1960-1980“ auf einer klein gedruckten Seite eine etwas objektivere Betrachtung des Wallace-Phänomens. Kriminalfilme aus Deutschland? „Es ist gelungen, im preußischen Schrebergarten Bananen zu züchten, die man sogar zu sich nehmen kann, ohne das einem schlecht wird“. Immerhin, kein gehässiger Verriss, keine Ignoranz.
Kurze Zeit später erschien das Buch „so grün war die Heide“, in dem Gerhard Bliersbach den Film „Der grüne Bogenschütze“ gesellschaftspsychologisch analysiert hat. Sehr aufschlussreich, sehr interessant und dabei fair!
Zurück zur Nacht mit dem verbitterten Filmkritiker. Mir gelang es, die Namen Harald Reinl und Alfred Vohrer ins Spiel zu bringen. Bei Reinl war ich überrascht: „Der hätte mal nach Hollywood gehen sollen, dann wäre halbwegs was aus dem geworden“, gestand er dem Regisseur zu, denn bei „Winnetou am Goldenen See oder wie das heißt“ - er wollte betonen, dass er die Karl-May-Film-Titel wegen der Unerheblichkeit der Serie nicht kannte - hätte Reinl ja schöne Bilder gemacht. Reinl war ein ungefährlicher Depp für ihn. Bei Vohrer war seine Reaktion eine andere. Der Name allein schien ihn aufzuregen, als hätte man mit der Nadel in den wundesten Punkt getroffen. Also kannte er diesen Regisseur sehr genau. Der Name des Erzfeindes war nämlich gefallen! Er überlegte, wie er den Regisseur diskreditieren könnte, rang nach Luft und Worten und brachte dann nur „Indiskutabel!“ heraus. Er wandte seinen Kopf Richtung Toilette und es schien mir fast, dass er sich demnächst übergeben müsse und sich deshalb schon mal nach sanitären Gegebenheiten umsah. Dann wandte er sich doch zu mir und meinte, dieses Gespräch sei sinnlos. Seine Haltung spiegeln die beiden Artikel über Reinl und Vohrer im Cinegraph: Der vergleichsweise kurze Artikel über Reinl lobt den „Trivialfilm-Regisseur“ als passablen Handwerker für Bilder und Action harmloser Filme. Der Fall Vohrer ist viel komplexer und der kluge Filmwissenschaftler Georg Seeßlen widmet ihm als einer der ersten einen langen Essay, in dem er zwar Vohrer letztendlich mit viel Mühe zerreißt, aber trotzdem doch auch viele richtige und interessante Gedanken aufreißt.
Diese Einschätzungen der Wallace-Serie finden sich auch in einigen Filmlexika, die ab den 1980er Jahren zunehmend erscheinen werden. Extrem unfair und undifferenziert ist Meinolf Zurhorst in seinen Kurzeinschätzungen der Wallace-Filme für sein Buch „Das Lexikon des Kriminalfilms“. Und „Das Lexikon des internationalen Films“ , eine Standard-Zitatquelle, gibt ganz zuverlässig sachliche Kurzkritiken über die Wallace-Filme heraus, bis
irgendwer auf die Idee kam, für eine Neuauflage alles neu zu bewerten. Bizarre Einschätzungen waren die Folge. Über „Das indische Tuch“ zum Beispiel liest man: „Serien-Gruselkrimi nach Edgar Wallace, der auch die geringsten Erwartungen enttäuscht.“ Das wage ich mal sehr stark zu bezweifeln. Die Realität beweist hier das Gegenteil. Daneben gibt es aber auch noch einige Filmbücher über das Krimi-Genre, in denen ein sachlich informativer Artikel über die Wallace-Filme zu finden ist.
Und mit der Zeit kamen immer mehr Fanbücher. Florian Pauers Buch über die Wallace-Filme war 1981 erst einmal eine Offenbarung für die Fans, und es sollten noch viele Bücher und später Websites folgen, in denen über die Wallace-Filme informiert wird und die Filme diskutiert und bewertet werden. Aber so begrüßenswert das alles ist, die Autoren sind zumeist Fans, die weniger an einer objektiven Betrachtung interessiert sind als vielmehr daran, zuweilen auch recht stoisch ihre persönliche Meinung durchzusetzen.
Ich saß damals noch eine zeitlang in der Bar und dachte darüber nach, dass die Edgar-Wallace-Filme womöglich niemals fair und sachlich von außen betrachtet werden würden. Das glaube ich heute auch immer noch, obwohl inzwischen zu meiner Genugtuung kein geringerer als Quentin Tarrentino auf der Berlinale vor den Vertretern des sogenannten Neuen deutschen Film“ zu deren Schrecken Alfred Vohrer und „Die blaue Hand“ als subjektiv das beste des deutschen Films bezeichnet hatte.
Der Filmkritiker in der Bar wandte sein gequältes Antlitz dauerhaft von mir ab. Abgeschreckt von seinem Mescal-Konsum bestellte ich mir lieber einen Kaffee. Ich sollte bald mal nach Hause gehen, überlegte ich. Während ich den letzten Kaffee trank, hörte ich aus den fernen sanitären Anlagen unschöne Geräusche.
Vielleicht lege ich gleich zuhause noch „Die blaue Hand“ in meinen Videorecorder - dachte ich, während mein Tresennachbar sich heftig übergeben musste. Das war nicht zu überhören. Ich war froh, dass es mir nicht so schlecht ging wie dem seriösen Filmkritiker.