Die jungen Menschen in dem Edgar-Wallace-Film „Die seltsame Gräfin“ (1961) stoßen auf längst vergangene Verbrechen der alten Menschen in diesem Film. Dementsprechend sind die Rollen der eher negativen Figuren folgerichtig mit Stars aus Kriminal- und Horrorfilmen der UFA-Zeit besetzt: Rudolf Fernau, Richard Häussler, Fritz Rasp und allen voran Lil Dagover als Titelheldin „Die seltsame Gräfin“.
Deren kapriziöse Attitüde scheint aus einer längst vergangenen Zeit zu stammen, ähnlich wie die der Norma Desmond aus Billy Wilders „Sunset Boulevard“, nur dass es bei der Dagover nicht nur eine Filmrolle gewesen zu sein scheint. Ihre immer wieder fiktiven Angaben zu ihrer Biographie und ihre Auftritte in der Öffentlichkeit sprechen Bände. Die Titelrolle in ihrem einzigen Wallace-Film scheint für die mondäne Diva wie gemacht zu sein, Filmfigur und das Bild, das die Schauspielerin öffentlich von sich präsentiert, liegen hier nicht so weit auseinander, nur das die echte Dagover natürlich keine Verbrecherin ist.
Man erinnert sich noch an die vagen Bilder einer blutjungen Frau, die von Dr. Caligaris somnambulen Faktotum Cesare nachts aus schiefen Häusern durch schräge Kulissen verschleppt wird. Ein fern zurückliegender Alptraum. Doch nun ist diese blutjunge Frau wieder da, inzwischen reif geworden, und sie erzählt uns als Gräfin Morin wieder von ihrer Angst. Der Expressionismus kommt zurück in die graue Alltagsgegenwart und wie in dem Stummfilmklassiker sich letztendlich alles als Szenen aus der Irrenanstalt entpuppt , ruft die Dagover auch in „Die seltsame Gräfin“ ihren guten alten Bekannten zur Hilfe: Irrenarzt Dr. Tappat. Darsteller Rudolf Fernau ist uns als dämonischer Dr. Crippen in eindrucksvoller Erinnerung. Die totgeglaubten Geister einer gespenstischen Zeit sind zurück und bedrohen die sympathischen jungen Leute von heute.
Seien wir doch mal ehrlich: Nach dem zum Kult gewordenen Stummfilm des Expressionismus „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (1920) und zwei Fritz-Lang-Filmen aus den 20iger Jahren hatte die Dagover in “Die seltsame Gräfin“ ihre eigentlich beste Tonfilmrolle. Dabei war sie nach einem kurzen Gastspiel in Hollywood in den 1930er Jahren schon gut beschäftigte Filmdiva in großen Melodramen. Und wie andere große Diven auch wusste sie die Verhältnisse ihrer Zeit gut zu nutzen, ohne sich dabei mit den Niederungen der Politik öffentlich abzugeben. Im Melodram sind Probleme nämlich nie politisch, sondern nur im endlosen Kosmos des privaten Gefühlsleben beheimatet und eine echte Diva ist damit natürlich mehr als ausreichend beschäftigt. Ab den 1940er Jahren wurde Lil Dagover zunehmend als reife Aristokratin oder zumindest als Dame des gehobenen Bürgertums in zweiter Reihe besetzt. Kapriziös, mondän und melodramatisch: die expressionistische Attitüde lebte in ihren Darstellungen immer weiter. Sicher hätte sie damit vor allem in Edgar-Wallace-Filmen noch mehr gute Rollen ausfüllen können, was dann aber die Flickenschildt, die Horney oder die Steppat hervorragend und möglicherweise flexibler gemacht haben - aber nicht so mondän wie die Dagover gewesen wäre! Exaltierte Variationen der Gräfin-Rolle spielte sie später nur noch in zwei Fernsehkrimis: „Hotel Royal“ und „Tatort: Wodka Bitter-Lemon“.
Eine echte Diva muss sich eben rar halten! Doch wenn sie auftritt und wir das Glück haben, dabei zu sein, dann wirkt sie. Und irgendwie bekommen wir eine Ahnung davon, dass die Gefühle früher alle einmal viel größer gewesen sein müssen.
Verfasser: Hans-Jürgen Osmers I Sämtliche Texte unterliegen dem Urheberrecht und dürfen ohne Zustimmung und Quellenangabe nicht anderweitig verwendet werden.